Warum hast du Kinder?
- Nicole Grossen
- 23. Okt. 2020
- 5 Min. Lesezeit
Oktober 2020
Hast du dir diese Frage schon einmal gestellt? Und damit meine ich: so richtig radikal ehrlich? Und damit meine ich, dieser Frage bis auf den Grund nachzugehen und alles was auftaucht, auch wenn es aus deiner Sicht noch so verwerflich ist, von allen Seiten zu beleuchten?
Nein!? - Ja, dann los...
Nimm dir etwas Zeit und suche dir ein Gegenüber.
Person A beantwortet für sich während 5-10 Minuten (aber mindestens 5 Minuten) die Frage: “Warum habe ich Kinder?". Äussere alles, was auftaucht. Geh den Pfaden nach, die sich auftun, erkunde zensurlos dein Inneres.
Person B hört während dieser Zeit nur zu. Und wirklich nur zuhören. Keine Kommentare, Unterbrechungen oder Bemerkungen!
Nach Ablauf der abgemachten Zeit darf B nun alles, was offen, unklar oder spannend ist, ansprechen und klären. Nehmt euch dafür Zeit.
Anschliessend wechselt ihr die Rollen.
Was habt ihr herausgefunden? Wenn ihr den Mut habt, zensurlos alles, was auftaucht, zu äussern, zu fragen und zu hinterfragen, kommt bei dieser Übung oft sehr Erstaunliches heraus. Vielleicht auch so Manches, was du wahrscheinlich viel lieber nicht erkannt hättest?
Auch ich stand an dem Punkt, an dem ich erkannt habe, was ein Teil von mir nicht sehen wollte und was ich daher 30 Jahre erfolgreich in mein Unterbewusstsein unterdrückt hatte:
Meine Tochter war ein Wunschkind. Schon seit ich mich erinnern kann, wollte ich Kinder. Vier sollten es werden.
Das Leben mit meiner Tochter und das Muttersein entsprachen jedoch so ganz und gar nicht meinen Vorstellungen. Schon früh habe ich mich von ihrem Vater getrennt. Wir teilten uns das Sorgerecht und die Betreuungszeit von Anfang an zu 50%.
Objektiv betrachtet hatte ich also genügend Zeit für mich. Ich hatte freie Wochenenden und mindestens drei freie Nächte pro Woche. Ich kann mich aber nicht daran erinnern, dass ich meine Tochter je vermisst habe. Im Gegenteil, mich stressten die Zeiten immer mehr, wenn sie wieder zu mir zurückkommen sollte. Auch das Sein mit meiner Tochter war, seit ich sie hatte, nur anstrengend. Ich war müde, schlapp und ungeduldig. Ihre Entwicklung ging mir viel zu langsam. Immer hörte ich all die anderen Mütter sagen: "Ach, die Zeit geht so schnell vorüber und sie werden gross." In mir war jedoch nur die Stimme: "Was geht da schnell!" Ganz und gar nicht. Alles geht viel zu langsam. "Sie kann noch nicht...". Ich wusste nicht, was mit ihr anfangen sollte, alleine spielen tat sie auch nicht. Immer musste sie bei mir sein.
Nachdem ich schon ca. zwei Jahre intensive Bewusstseinsarbeit gemacht hatte, war ich wieder in einem Retreat. Eines Abends sassen wir in der vollen Runde beisammen. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, was das Thema war. Nach einiger Zeit kam die Aufmerksamkeit jedoch zu mir. An das, was dann passierte, kann ich mich nur noch bruchstückhaft erinnern. Es ging um mich, um meine Tochter und um mein Muttersein. Da ich schon einige Erfahrung mit Schattenarbeit hatte, konnte ich beobachten, dass wir da an etwas sehr Grossem dran waren. Es dauerte etwa zwei, drei Stunden. Ich hatte immer wieder kleine Einsichten. Spürte aber auch immer wieder, wie sich mein Ego dazwischen schob - Widerstand genau hinzuschauen machte sich breit. Den "Schlusspunkt" erreichten wir plötzlich, als ein Leiter sagte: "Du musst deine Tochter weggeben.“
Ich hörte diese Worte, mein Verstand konnte sie nicht erfassen. Mein Körper fing an, heftig zu zittern. Ich sass dort auf dem Boden und alles, was ich dachte, war: "Meine Tochter muss weg! Ich muss sie zur Adoption frei geben."
Dieser Gedanke berührte mein Herz. Ich fühlte unglaublichen Schmerz und Ohnmacht. Aber ich wusste: Das ist das Richtige.
Rückblickend zusammengetragen war der Schatten folgender: Ja, mein Kind war ein Wunschkind. Aber der Wunsch kam nicht aus diesem reinen Ort, wo du als Frau Leben schenken willst, weil du voll bist und genug hast, um bedingungslos für ein kleines Menschenwesen da zu sein. Der Wunsch, Kinder zu haben, entsprang aus einem Mangel - war also rein egoistisch. Mein Mangel war, dass ich mich nur über Rollen definieren konnte. Ich fühlte mich nur wertvoll, wenn ich eine Rolle (Mutter, Tochter, Lehrerin, Freundin…) hatte.
Als meine Tochter dann auf der Welt war, entsprach die Realität ganz und gar nicht meinen Vorstellungen. Wenn ich ganz ehrlich zu mir gewesen wäre, dann hätte ich erkannt, dass ich nicht das Beste für meine Tochter bin. Im Zusammensein mit ihr wären Gefühle ans Tageslicht gekommen, die ich unter allen Umständen vermeiden wollte (Abneigung, Wut, Lust), auch war ich aber nicht fähig, meine Tochter einfach nur zu lieben. Mein Herz war verschlossen. Das einzige, was ich also in dieser Situation tun konnte, war eine "gute" Mutter zu sein. Ich erfüllte meine Rolle perfekt. Der Preis, den ich dafür zahlte, war ein Leben, das mühsam, lustlos und vor allem freudlos war.
Nach der Session habe ich den Schritt gewagt. Ich habe meine Tochter abgegeben. In die Obhut ihres Vaters. Er hat mit der Familie und meinen Freundinnen einen Betreuungsplan erstellt, der es mir ermöglichte, total Abstand von meiner Tochter zu bekommen. Wir hatten die Abmachung, dass ich sie nur sehe, wenn ich wirklich wollte.
Dieser Schritt schaffte mir Raum für meine Heilung. In dieser Zeit geschah unglaublich viel. Mein Herz fing an sich zu öffnen. Ich entdeckte meine Lust und meine Wut. Doch hauptsächlich erfuhr ich, wer ich bin, was ich will und was ich nicht will. Ich erkannte, dass ich jemand bin, auch ohne Rolle.
Nach ca. drei Monaten fing ich dann an, meine Tochter zu vermissen; ein Gefühl, das ich so noch nie in meinem Leben gespürt hatte. Das war für mich das Zeichen, dass ich meine Tochter von Zeit zu Zeit wieder zu mir nehmen konnte.
Ich musste das Sein mit ihr jedoch unglaublich bewusst gestalten. Die alten Muster wollten sich sogleich wieder einmischen. Da ich jetzt jedoch die Referenz der lebendigen Frau hatte, konnte ich sofort reagieren. Anfangs musste ich ein Backup haben, um meine Tochter spontan abgeben zu können, da es mir nicht möglich war, die Emotionen in der Gegenwart meiner Tochter zu durchspüren.
Heute lebt meine Tochter wieder bei mir. Ich kann all meine Emotionen auch in ihrer Gegenwart spüren und mit Hingabe die Zeit mit ihr verbringen.
Ich habe aber auch erkannt, dass mein erschaffender Teil grösser ist, als bei vielen Frauen. Ich brauche Zeit für mich und meine Projekte. Ich habe eine gesunde Balance mit meiner Tochter gefunden und habe keine Scheu mehr, mein Umfeld um mich und meine Tochter herum zu organisieren.
Ich glaube ganz fest daran, dass wir es unseren Kindern schuldig sind, uns diese Frage auf so radikal ehrliche Weise zu stellen, wie in der Geschichte beschrieben.
Denn nur so können wir den Schmerz, den wir seit Generationen unseren Kindern weitergeben, durchbrechen. Denn:
Das Kind - in diesem Fall mein Kind - ist nicht das Problem.
Es hat sich nicht zu langsam entwickelt - dies war eine Projektion.
Es war nicht das Problem des Kindes, dass es nur bei der Mutter sein wollte, sondern es hielt der Mutter damit einen Spiegel vor.
Hast du den Mut, hinzuschauen?
Was ist Dein Mangel?
Für welchen Mangel missbrauchst du deine Kinder?
Alles Liebe
Nicole
Fussnote: Wenn du keine eigenen Kinder hast, aber mit ihnen arbeitest, kannst du dir diese Frage genauso stellen. Die Frage lautet dann einfach: “Warum arbeite ich mit Kindern?”
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